Es war einmal… hier

In den Jahren 2016 und 2017 feiert die Deutsche Märchenstraße das Jubiläum „200 Jahre Deutsche Sagen„. Sagen sind mehr als nur Geschichten. Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit, und auch wenn sie wie der Rattenfänger von Hameln in phantasievoller Verkleidung daherkommen, haben sie eine Menge mit der Wirklichkeit zu tun.

Kleine, krallenbewehrte Füße scharren über das Kopfsteinpflaster. Schrilles Quieken hallt durch die Gassen der Stadt, dann ertönt der Klang einer Flöte. Hunderte, vielleicht tausende von Ratten halten inne, spitzen die Ohren – und folgen der Musik. Der Rest ist Geschichte. Eine von unzähligen Sagen, die es in Deutschland gibt.

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Rattenfängerbrunnen in der Hamelner Osterstraße

Das ekelerregende Nagetier, der geheimnisvolle Fremde, das unschuldige Kind; Magie, Erlösung, Unrecht und Strafe: Wie jede gute Geschichte spielen auch Sagen mit unseren Ängsten und Sehnsüchten. Aber im Gegensatz zum Märchen spielen sie nicht nur. Der besondere Reiz der Sage liegt nicht in der Story an sich, sondern in ihrer konkreten Verortung.

Es war einmal hier. Hier in dieser Höhle nahe der Paschenburg lebte die Wichtelfrau, die den Grafen von der Schaumburg verführte. Hier, wo heute der Bisperoder Kirchhof liegt, ging ein Werwolf um. Und hier, durch diese ganz bestimmte Gasse, lockte der Rattenfänger die Hamelner Kinder aus der Stadt. Die Geschichte mag bis zur Unkenntlichkeit ausgeschmückt oder fast vollständig verblasst sein, aber die Plätze sind noch da. Wir können sie besuchen, im Wald am Hohenstein die Augen schließen und uns vorstellen, den Weißen Hirsch zu sehen, oder die Weser entlangwandern und bei jedem Rascheln im Gras an Ratten denken.

Durch ihren Schauplatz wird die Sage zur Brücke, die nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern außerdem Imagination und Realität verbindet. Sie gibt den Felsen, Bäumen und Bergen einen neuen, geheimnisvollen Kontext und wird durch sie selbst ein bisschen mehr zur Wirklichkeit – wenn unsere Vorstellungskraft es zulässt.

Anderswo fällt das leichter als vor der eigenen Haustür, obwohl wir keine Geschichte so gut kennen wie die eigene. Oder gerade deswegen… Wer wie wir fast täglich über den Rattenfänger stolpert, scheint irgendwann immun gegen die (Flöten)Magie zu werden, die Besucher aus aller Welt nach Hameln lockt. Das Gleichgewicht zwischen Phantasie und Realität muss stimmen, damit die Sage wirklich wirkt.

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Treppe am Hamelner Weserufer

Gänsehaut-Momente mit der eigenen Haussage können wir trotzdem erleben – wenn wir ihr abseits der ausgetretenen Pfade begegnen. Nachts in den dunklen Altstadtgassen, im Herbstnebel am Weserufer, notfalls sogar beim Anblick einer echten Ratte, die blitzschnell im Mauerschatten verschwindet. Und plötzlich ist er da: der Rattenfänger mit seiner ganzen düsteren Geschichte, so als hätte er nur darauf gewartet, dass wir ihm unachtsam ein Türchen öffnen. Um uns daran zu erinnern, dass sein Platz schon immer hier und nirgendwo anders war.

 

Ihr kennt eine „kleine“ Sage, einen alten Brauch oder lokalen Mythos oder eine geheimnisvolle Geschichte, die nicht in den Märchenbüchern steht? Dann schreibt eine Mail an viasaga@web.de und erzählt uns davon.

Unterwegs auf der Märchenstraße III

Unser dritter und vorerst letzter Drehtag auf der Deutschen Märchenstraße beginnt tatsächlich in märchenhafter Atmosphäre. Morgens um halb sieben im Urwald… Genauer: Zwischen den bemoosten Baumriesen im ältesten Naturschutzgebiet Hessens, dem „Urwald Sababurg„. Wir sind 100 Kilometer von Hameln entfernt – und haben das Gefühl, (mindestens) 100 Jahre in die Zeit zurückgereist zu sein. Natur, Bäume und Stille, mehr scheint es in dieser Welt nicht zu geben.

Fast ein bisschen beschämt stellen wir unsere Scheinwerfer auf, beginnen zu drehen und schwören uns, dass wir eines Tages wiederkommen werden, um diesen Wald mit der Ruhe zu genießen, die er verdient hat. Und um das Dornröschenschloss Sababurg zu besuchen, wenn die Rosen blühen. Für den ViaSaga-Trailer ist die winterliche Stimmung zwischen den alten Mauern allerdings perfekt, schließlich hat in unserem Film ausnahmsweise nicht die strahlende Prinzessin das Wort, sondern die finstere 13. Fee.

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Die Sababurg bei Nacht.

Wir drehen, bis die Sonne untergeht. Irgendwann sind wir allein auf der Burg. In der Dunkelheit. Mit den Gedanken tief eingetaucht in eine andere Welt. Und plötzlich hören wir sie. Erst einen, dann immer mehr: Wölfe…

Wir wissen, dass ihr Heulen aus dem nahegelegenen Wildpark zu uns heraufschallt.

Eine Gänsehaut bekommen wir trotzdem.

Alle Bilder in diesem Beitrag (2): (c) Familie Koseck, Dornröschenschloss Sababurg

Unterwegs auf der Märchenstraße II

Dunkler gehts nicht. Und enger kaum noch… Gebückt erkunden wir das historische Kupfererzbergwerk in Bergfreiheit. Der kleine 400-Seelen-Ort an der Deutschen Märchenstraße trägt nicht umsonst den Titel „Schneewittchendorf“. Irgendwann einmal muss es hier Zwerge gegeben haben, denn anders sind die Dimensionen der unterirdischen Stollen kaum zu erklären.

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Blick ins Kupferbergwerk Bertsch

Kamera und Kostüme bekommen ihr Fett weg, und als wir nach Abschluss der Dreharbeiten endlich ans Tageslicht zurückkehren, sehen wir selbst ein bisschen wie abgekämpfte Kumpel aus. Hunger haben wir jetzt für sieben Zwerge PLUS einem ausgewachsenen Schneewittchen. Zurück im Hotel müssen wir jedoch mit Schrecken feststellen, dass die Küche bereits geschlossen ist. Wir machen es uns auf dem Bett so gemütlich wie möglich und verspeisen den restlichen Reiseproviant. Ganz zum Schluss bleibt noch der rote Apfel übrig, den wir als Requisite mitgenommen haben.

Ein kurzes Zögern – und wir beißen todesmutig hinein. Zur Not muss uns morgen früh dann eben ein Prinz wachküssen…

 

Unterwegs auf der Märchenstraße

Nun ist es also tatsächlich soweit: Wir sind unterwegs. Zum ersten Mal unterwegs auf der Deutschen Märchenstraße, die sich von Bremerhaven bis Hanau erstreckt. Von der Rattenfängerstadt Hameln aus starten wir zum dreitägigen Dreh unseres VisaSaga-Trailers. Mit dabei: Die 13. Fee, der Wolf, die böse Hexe, der Rattenfänger und andere finstere Gesellen, die uns ihre Sicht der Dinge erzählen werden. Wie war das damals mit dem vergifteten Apfel? Hat Rotkäppchen sehr geweint, bevor es gefressen wurde? Und die entführten Hamelner Kinder: Was ist aus ihnen geworden?

Videojournalistin Nina Reckemeyer und Dewezet-Projektmanagerin Claudia Bubat haben einen Kleinbus voller Requisiten gepackt. Vom Becherlein bis zur hölzernen Wiege darf nichts fehlen, wenn es dunkel wird im Wald und die düsteren Sagengestalten am Herdfeuer zusammenrücken, um ihre Geschichten zu erzählen. Denn die leben von einer ganz besonderen Stimmung, in der alte Zeiten, mystische Figuren und Natur zu einer zauberhaften Einheit verschmelzen.

vlcsnap-2016-01-27-19h24m39s258Genau diese Atmosphäre wollen wir einfangen: Nicht den Zuckerguss, der sich im Lauf von Jahrhunderten über so manchem Märchen gebildet hat, sondern die rauhen, geheimnisvollen und beunruhigenden Seiten. Sagen sind kein Kinderkram. Das wird jedes Kind bestätigen, das nach dem Erzählen schon einmal wach im Bett gelegen und Schatten an den Wänden beobachtet hat.

Auf dem Weg zum Schloss Friedrichstein in Bad Wildungen, unserem ersten Drehort, fühlen wir uns selbst ein bisschen wie Abenteurer aus einer anderen Zeit. Wir haben einen Plan – aber keine Ahnung, was uns wirklich erwartet.