Vier Grad unheimlicher

Vier Grad. Der Unterschied zwischen Vernunft und Instinkt beträgt ziemlich genau vier Grad. In dem Augenblick, in dem es plötzlich kalt wird im Heyer Moor, weiß ich das noch nicht. Den exakten Temperaturunterschied werde ich erst eine knappe Stunde später vom Autothermometer ablesen. Jetzt sehe ich nur die leuchtenden Ziffern meiner Uhr: 00:12 Uhr. Zwölf Minuten nach zwölf, lese ich laut, und fühle dabei den kalten Windhauch, der von den dunklen Weiden herüberweht. Die Grille, die uns seit einer halben Stunde mit ihrem Zirpen begleitet, scheint plötzlich leiser zu musizieren. Die Nachtigall legt eine theatralische Pause ein und sogar der Hofhund in der Ferne verstummt. Dafür leuchtet der Vollmond jetzt etwas heller.

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In meinem Kopf leistet die Weiße Frau im Heyer Moor gerade ganze Arbeit. Ohne sie wäre die Gänsehaut auf meinem Rücken nur halb so überzeugend. Wir sitzen im Dunklen auf dem Feldweg am Rand des winzigen Sumpfs und kichern. Zwölf Minuten nach zwölf, dazu die plötzlich einsetzende nächtliche Kühle – und schon ist es passiert: Ich grusele mich. Schuld daran ist die Weiße Frau, von der die Leute im Internet erzählen. Eine vage Geschichte, nicht mehr. Aber auch ein Türöffner für meine Phantasie. Ohne die Weiße Frau wäre das hier eine Nachtwanderung, mit ihr ist es Geisterjagd.

Obwohl ich nicht gläubig bin, halte ich Gott nicht für ausgeschlossen. Genauso wenig glaube ich an Hypnose und Homöopathie, nehme die Wirkung, die beides haben kann, aber dennoch zur Kenntnis. Und selbstverständlich glaube ich nicht an Gespenster. Gruseln kann ich mich trotzdem hingebungsvoll. Sich zu gruseln bedeutet, wachsam zu sein, mit allen Sinnen wahrzunehmen und das Undenkbare dabei mitzudenken. Was wäre, wenn…? Gruseln heißt, sich selbst beim Überschreiten der Grenze zwischen Verstand und Instinkt zu beobachten. Ein kontrollierter Kontrollverlust, ein Moment der Schwäche und des Ausgeliefertseins an die eigenen Ängste, die man am Ende überwindet. Sich gruseln bedeutet, sich mit den eigenen Kräften zu messen.

Mond5Zwischen Weiden, hohem Gras und Nachthimmel hat die Weiße Frau mit dem kalten Atem jetzt einen hübschen Platz für meinen nicht vorhandenen Glauben geschaffen. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach etwas, das es gar nicht gibt. Innerlich muss ich noch mehr lachen als äußerlich. Später sehe ich uns dabei zu, wie wir mit der Kamera kämpfen. Auch beim fünften Doppel-Selfie-Versuch weigert sich das Gerät beharrlich, etwas anderes zustande zu bringen als eine unerklärliche Fehlermeldung. Wir machen Witze, schütteln die Köpfe und lachen. Humor bedeutet Überlegenheit. Und natürlich siegen wir. Am Ende ist das Bild im Kasten. Die Weiße Frau hat sich nicht blicken lassen, und wir treten den Rückweg an.

Später im Auto klingelt das Telefon. Ulli Behmann verkündet fröhlich, dass es mit dem Temperaturunterschied nicht weit her gewesen ist. Sein Thermometer zeigt dieselbe Zahl wie bei der Ankunft. Aber meines behauptet etwas anderes: Vier Grad Celsius liegen zwischen Vernunft und Instinkt…

Während der Rückfahrt blicke ich häufiger in den Rückspiegel als sonst. Und ich singe laut, bis ich zuhause angekommen bin.

Zur Version von Ulrich Behmann

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